Erinnerungen





Die alten Blätter rascheln mürb in meinen Händen,
wenn  ich sie sorgsam als Geschichtsbild niederleg,
sortiere, lese, staune über ihr Verwenden
in einer  längst vergang‘nen Zeit und ich entschweb

in fremde Räume, Städte und auch in Gedanken,
der Menschen, deren Briefe ich gespannt nun las
und leise öffnen sich mir die Jahrhundertschranken.
So Vieles find ich, das man lange schon vergaß.

Von Liebe, Freunden und von Krieg, der Angst entfesselt,
der vielen Menschen nimmt der Heimat Lebensort.
Sie flüchten laufend, fahrend - eh sie eingekesselt.
Der Sehnsucht Lieder tragen sie im Herzen  fort.

Ganz liebevoll umfange ich die Post der Ahnen,
behutsam glättend streicht  noch einmal meine Hand
die knitterigen  und schon sehr vergilbten Bahnen,
auf deren Spur ich die Vergangenheiten fand.


FloravonBistram






Zum 80. Geburtstag für Oma
Wenn du jung bist, merkst Du's nicht,
alles ist dir selbstverständlich.
Leben scheint im Morgenlicht
unzerstörbar, ganz unendlich.

Lebst von Tag zu Tag und ahnst
manchmal auch des Schicksals Schwere,
doch du hoffst trotzdem und planst,
als ob‘s Leben ewig währe.

Und auf einmal merkst du schwer,
dass die Jahre rascher schwinden;
alles ändert sich umher,
lässt sich nicht mehr an dich binden.

Wenn das Alter dich befällt,
kommen andere Gedanken,
denn Gesundheit in der Welt
wird geschätzt erst von den Kranken.

Dann merkst du auf jeden Fall,
dass dein Ich wird nebensächlich
und im großen Weltenall
unbedeutend, klein und schwächlich.

Große Güte hält dich fest,
was gewesen, wird verständlich,
jeder Zweifel dich verlässt,
inn'res Leben wird unendlich.

Und du fühlst dich glücklich doch,
kannst ja hoffen, glauben, lieben.
Denn Du bist trotz Alter noch
in der Seele jung geblieben.

floravonbistram 1975


Meine schönste Erinnerung ist das liebevolle „Lass sie doch!“  

Opa Willi war eigentlich mein Stiefopa, aber das wusste ich damals noch nicht. Er lächelte immer so herzlich, ich habe seine funkelnden Augen heute noch  in Erinnerung.
Ich muss erst zwischen 2 und 3 Jahren gewesen sein, als wir bei den Großeltern am Tisch saßen. Und doch erinnere ich mich.
Auf dem Tisch prangte das Wurstbrett, ja prangte für mich, denn in der Erinnerung ist es immer noch  riesengroß im Gegensatz zu dem heimischen Tisch, der immer sehr karg bestückt war.
Urgroßmutter war Hebamme und wurde oft in Lebensmitteln entlohnt, Opa Willi war Bahnpolizist und Oma Helene hatte eine kleine Konfiserie in Siegen und ich wurde mal wieder als Besuchskind verwöhnt.
Ganz langsam  näherte sich meine Hand der großen Blutwurst, die mich mit langem Band anlachte. Vorsichtig packte ich das Ende des Bandes und zog, langsam und – wie mir erzählt wurde - mit der Zungenspitze immer über die Lippen fahrend.
Als ich endlich die Wurst mit beiden Händen packen konnte, sie selig zum Mund führte, um herzhaft hinein zu beißen, stoppte mich die Oma, doch Opa sagte gütig lächelnd: “Lass sie doch!“
Dieses Gesicht, dieser Satz begleiten mich. Er starb 2 Jahre später bei einem Bahnunfall und hinterließ eine riesige Lücke in meinem Herzen und ich hatte mitunter, wenn ich meinen Kindern etwas versagen wollte, das Gefühl, er steht vor mir, lächelt mich an und sagt: “Lass sie doch“.